Dr. Peter Schulte im Interview: Kampfbegriff Sekte

Dr. Peter Schulte im Gespräch mit Dr. Elias Rubenstein über Kirchenaustritt, Kirchenkritik, die Verflechtung von Kirche und Staat, Sekten, staatliche, katholische und evangelische Sektenbeauftragte, Neue Religiöse Bewegungen, Kampfbegriff Sekte.

Gesamtes Interview mit Dr. Peter Schulte: Kampfbegriff Sekte.

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Zusammenfassung des Interviews:

Rubenstein: Was verstehen Sie persönlich unter Sekten?

Schulte: Es gibt für mich zwei verschiedene Herangehensweise an das Thema Sekten. Zum Einen eine sehr wissenschaftlich-analytische Herangehensweise, die Sekten unter dem Aspekt ihrer Funktion versteht. Da werden Sekten als das bezeichnet, was nicht dem Mainstream bzw. der vorherrschenden Religiosität entspricht. In der Vergangenheit wurde der Sektenbegriff eher als Beispiel für eine bestimmte philosophische Richtung oder religiöse Schule verwendet. In der Bibel wird von der Sekte des Nazareners und auch von Paulus als Rädelsführer der Nazarener-Sekte berichtet. Auf der anderen Seite geht es eher um eine Zuweisung. Der Begriff Sekte wird als Kampfbegriff benutzt um bestimmte religiöse Gruppen mit negativen Zuweisungen zu etikettieren. Das gab es nicht nur in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, wo man bestimmte Gruppierungen, die aus Asien oder aus Amerika kommen, Stichwort „Scientology“, als Sekte bezeichnet hat. Im Grunde hat man damit gemeint, dass es sich um eine religiöse Strömung handelt, die offenbar den Menschen nicht gut tut.

Rubenstein: Woher kommt die weitverbreitete Angst vor der Gefahr von Sekten?

Schulte: Dieser Sektenbegriff als Etikettierung für religiöse Strömungen, die offenbar in der Gesellschaft gefährlich sind, ist keine neue Erscheinung der heutigen Zeit. Das gab es schon im Mittelalter, wo die protestantischen Bewegungen, die aufgekommen sind oder auch zum Beispiel die Hutterer als protestantische Bewegung in Tirol, die ja auch in der Kirche oder auch im Zusammenhang mit politischer Aktivität als Sekte und auch als Häresie bezeichnet wurde, da sie dem Mainstream der Religiosität nicht entsprochen hat. Der Sektenbegriff wurde stets als Kampfbegriff benutzt um bestimmte Gruppen damit zu etikettieren. So auch die Sektenreferate der Neuzeit, die katholische Kirche, evangelische Kirche, die Elterninitiativen, die privaten Initiativen, die sich aus bestimmten Motiven mit Neuer Religiosität beschäftigt haben, die jedoch im Mainstream in die Richtung gehen, Neue Religiosität als etwas darzustellen, das für den Menschen nicht so gesund ist, denn „nur bei uns in der Kirche“ liegt das Heil. Das hat auch damit zu tun, dass offenbar bestimmte herrschende Religionen der Ansicht sind, dass sie dieses Monopol über den Begriff von Kirche und Religion für sich gepachtet zu hätten.

Rubenstein: Geht von diesen sogenannten Sekten aus wissenschaftlicher Sicht eine reale Gefahr aus?

Schulte: Es gibt keine wirklichen Untersuchungen, die von Gefahren sprechen. Wenn man von Gefahren spricht, dann muss man über alle Religionen sprechen, auch die jetzt herrschenden. Denn da sind bekanntlich die größten Gefahren, die in der Zeitung zu lesen sind. Ich will mir nicht anmaßen über alle Religionen zu sprechen, doch hat jede Religion auch Schattenseiten. Ich glaube auch nicht, dass Religionen bestreiten würden, dass so etwas wie Missbrauch oder wo destruktive Elemente bei ihnen vorhanden sind. Aber das muss man im Kontext aller Religionen sehen und nicht in einer einzigen. Von daher glaube ich, dass das nur die Betonung auf die Destruktivität in Sekten eigentlich von der jeglichen Problematik ablenkt, dass geschlossene Systeme, wie sie zum Beispiel in der katholischen Kirche zu finden sind, diese Destruktivität innerhalb der Kirche fördern. Siehe Bischof Krenn, siehe die ganzen Missbrauchsfälle in Boston, 25.000 an der Zahl. Dies wird von der Kirche als einzelne Entgleisung bezeichnet, während hingegen in Sekten, natürlich da ist das offenbar, würde dies an der Gang und gäbe stehen. Das finde ich für die Diskussion nicht hilfreich.

Rubenstein: Was ist von sogenanntem Aussteiger-Berichten zu halten, die man immer wieder in den Medien sieht?

Schulte: Die Aussteiger werden immer weniger und es sind hauptsächlich die, die aus Scientology kommen. Jedoch kommen die größten Aussteiger immer aus den eigenen Reihen, siehe Hubertus Mynarek oder Eugen Drewermann. Da gibt es einige, die man nennen könnte. Jeder Aussteiger hat seine Berechtigung und seine Erfahrung. Es ist schwierig im Einzelfall wirklich zu beurteilen, was der wirkliche Hintergrund des Ganzen ist. Man müsste alle Beteiligten zu Wort kommen lassen um sich ein objektives Bild von der Situation machen zu können. Nur einen einzelnen Aussteiger auftreten zu lassen ohne die Gruppen, die es betrifft, um ihre Meinung kundzutun, verzerrt aus meiner Sicht das Bild.

Rubenstein: Gehören Sie aktuell einer religiösen Bewegung an?

Schulte: Ich bin überhaupt nicht religiös. Ich bin ein Sozialwissenschaftler, der sich mit der Materie beschäftigt, welche Funktion übt Religion in der Gesellschaft aus und wie wird Ko-Religion in der Gesellschaft kommuniziert? Das ist mein Hauptanliegen. Ich habe überhaupt gar keine religiöse Intention auch wenn mir dies immer wieder nahegelegt wird.

Rubenstein: Waren Sie einmal Mitglied einer Kirche?

Schulte: Ja, ich war wie die meisten von uns katholisch. Ich bin getauft und habe nie irgendeine große Verbindung zur Kirche oder eine Nähe zur Kirche verspürt.

Rubenstein: Warum sind Sie dann ausgetreten?

Schulte: Wir haben damals studiert und für uns war das keine Alternative in der Kirche zu sein. Für uns war Kirche, katholisch sein, verkrustet, zu bieder, zu konservativ.

Rubenstein: Sie haben die Begriffe „Beamtensekte, Politikersekte, Saunasekte, Sekte der Sektenbeauftragte“ geprägt. Können Sie uns etwas dazu erzählen?

Schulte: Mit dieser Polemik möchte ich sagen, dass ich diesen Sektenbegriff nicht unbedingt auf religiöse Gruppen anwenden würde, sondern dass das Sektenhafte, oder wo man sagt, da werden Leute nicht gut behandelt oder sie verändern sich oder sie müssen nur Dinge machen, die ihnen nicht passen, dass das eigentlich Bereiche sind, die man auch aus anderen Kontexten kennt, wie zum Beispiel in der Arbeitswelt, wo man sich oft in Situation befindet, wo man nicht mehr Herr der Lage ist,
sondern sich dem Dogma der herrschenden Regeln anpassen muss und Widerstand wird dabei nicht geduldet. Das sieht man besonders in der Beamtenschaft, die funktioniert nur, wenn man sich demütig den Weisungen der Vorgesetzten unterwirft. Sobald man seine eigene Meinung entwickelt oder eine eigene Vorstellung oder Sichtweise hat, hat man das Gefühl, dass dies nicht gut ist. Es gibt auch Situationen, dass sich in Gruppen, in Sportvereinen, in welchen Bewegung auch immer, geht es auch um akzeptiert werden, ein Teil der Gruppe werden. Man möchte vielleicht auch eine Führungsposition ausüben. Wenn man merkt, dass das so nicht geht und dass sich Widerstand regt, sobald man sich in eine andere Richtung bewegt, hat man mit Konsequenzen zu rechnen. Ich finde diesen Sektenbegriff sollte man nicht allein auf religiöse Gruppen anwenden, sondern eher als allgemeines Merkmal von bestimmten Gruppen bezeichnen.

Rubenstein: Gibt es ihrer Meinung nach eine Verbindung zwischen staatlichen und kirchlichen Sektenbeauftragten?

Schulte: Ja absolut, das kann man sagen. Zum Beispiel gibt es Politiker, die stark auf diese Sektendiskriminierung aufspringen, die Broschüren veröffentlichen, wo sie alle katholischen und evangelischen Sektenreferate aufführen und völlig unkritisch diese publizieren. Da wird gar nicht hinterfragt, welche Denkweise diese Sektenbeauftragten an den Tag legen. Es gibt eine Allianz von Staat und Kirche, indem zum Beispiel in Deutschland der Staat die Kirchensteuer eintreibt. Da gibt es historisch gewachsene Verbindungen. Es gibt insbesondere in Bayern eifrige Politiker, die sich auf die Fahne heften, dass sie den Kampf gegen neue religiöse Bewegungen aufnehmen.

Rubenstein: Sind ihrer Meinung nach die staatlichen Sektenbeauftragungsstellen zeitgemäß?

Schulte: Es gibt gar nicht so viele. In Österreich sind es zwei oder drei, die Bundesstelle für Sektenfragen in Wien ist die größte staatliche Einrichtung. Da arbeiten sieben oder acht Leute. Die gibt es seit zwanzig Jahren. Was haben die gemacht? Die zeichnen sich eher durch ihr Schweigen aus und positionieren sich überhaupt nicht. Die beschreiben sich als Bundesstelle für Sektenfragen und wenn man ihre Berichte liest, sieht man dass da wenig Substanz enthalten ist. Die tun sich nicht wirklich outen und sie tun aus meiner Sicht nicht wirklich das Problem aufzeigen, was sie haben. Was nützt es dem Leser, wenn da steht Scientology ist in den Anfragenprofilen am häufigsten zu finden, wenn nicht einmal die Qualität der Anfragen analysiert wird. Womit kommen die Leute eigentlich in die Beratung und haben sie wirklich so ein Problem, wie es in der Öffentlichkeit dargestellt wird, also die in einer scientologischen Gemeinschaft sind und nicht mehr herauskommen? Das ist so eine Grundfrage, die seit zwanzig Jahren nicht beantwortet wird und auch nicht beantwortet werden wird.

Rubenstein: Was bezwecken Großkirchen mit ihren Sektenbeauftragungsstellen?

Schulte: Die Großkirchen waren die ersten, die damit angefangen haben, Neue Religiosität, „religiöse Strömungen unserer Zeit zu betrachten“. Aber im Grunde genommen, wenn man die Literatur anschaut, da ist von ihren Dogma der Nächstenliebe nicht mehr so viel zu spüren. Beim Handbuch über religiöse Gemeinschaften, dem Hauptwerk der evangelischen Kirche, geht es eher darum, Gruppen auszugrenzen und sie als nicht-christlich darzustellen. Sofern jemand evangelisch werden will, ist zuvor ein Gespräch erforderlich. Es wird eher aus einer kritischen Perspektive betrachtet. Als beispielsweise Scientology nach Europa gekommen ist, da gab es überhaupt keine Diskriminierung von Scientology, weil es diese Referate nicht so gab. Dieser Hype, was alles in Sekten passieren kann, ist überhaupt noch nicht so präsent gewesen. Das ist erst entstanden als diese Sektenreferate in Deutschland entstanden sind, dass man im Zuge von eigener Existenzsicherung und Positionierungen auf dieses Feld der Neuen Religiosität aufgesprungen ist und gemeint hat man muss ich von allem Religiösen irgendwie abgrenzen, was nicht die Hauptströmung ist, anstatt sich einfach einmal die Gemeinsamkeiten anzuschauen.

Rubenstein: Was empfehlen Sie neuen religiösen Bewegungen um aus diesem Schattendasein zu kommen?

Schulte: Ich glaube das ist fast unmöglich. Sicher hat sich auch einiges durch die staatlichen Anerkennungen geändert Stichwort „Zeugen Jehovas“, auch die „Moon Bewegung“ hat den Status der Bekenntnisgemeinschaft erhalten. Diese sind auch nicht mehr so im Fokus der Beobachtung. Ich kann diesbezüglich keine Empfehlung aussprechen, die Gruppen müssen selbst eine Strategie finden, wie sie aus diesem Dilemma herauskommen. Die Strategie, die ich bisher sehe, ist bestimmte Annäherung, dass man versucht sich zu zeigen, sich zu öffnen. Ich glaube, dass die Zeit und die Veränderungen und der Generationenwechsel in den Referaten sicher eine Bewegung mit sich bringen wird, die eher in Richtung einer liberalen Haltung gegenüber alternativer Religiosität stattfindet. Ich weiß nicht, ob Maßnahmen, Tagungen oder Fernsehbeiträgen wirklich einen Sinn machen. Im Grunde spielt sich diese Diskussion über Sekten auf einer öffentlichen Ebene statt. Die meisten Bürger interessiert das nicht. Jugendliche interessiert das überhaupt nicht, wenn Sektenbeauftragte in die Schule kommen und ihnen etwas über Sekten erzählen. Auf der medialen und politischen Ebene positionieren sich Leute – da geht es um Macht, Herrschaft und vorherrschende Meinungen. Es ist ein deutsches und auch europäisches Phänomen sich gegen Religionen zu stellen, die nicht so groß sind und die vielleicht keine 2000 Jahre Geschichte aufweisen um sich zu positionieren, denen das Leben schwer zu machen.

Dr. Peter Schulte promovierte in Sozialwissenschaften. Er ist Soziologe und war 12 Jahre Sektenbeauftragter der Informations- und Beratungsstelle der Österreichischen Landesregierung in Tirol. Schwerpunkt seiner Tätigkeit war die Beratung von Erwachsenen und Jugendlichen in Bezug auf sogenannte Sekten und Psychogruppen, neuer Religiosität und Spiritualität sowie Okkultismus und Satanismus. Des Weiteren ist Schulte Autor der Bücher „Die Akte Scientology“ und „Neue Religiöse Bewegungen – Gesellschaftliche Dramatisierungsstrategien und soziale Wirklichkeit“.